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Der Nationalismus: modern per Definition

Was sagt die Forschung zum Nationalismus und seiner Definition?

Es sind meist gerade die allgegenwärtigen Dinge, die uns im Alltag am wenigsten auffallen und über die wir am wenigsten wissen. Im Englischen gibt es dafür sogar eine Redewendung: „Hiding in plain sight„, sich „in Sicht“ verstecken. Im besonderen Ausmaß trifft das auf Dinge zu, die unser Leben Tag für Tag prägen aber irgendwie zu abstrakt sind, um immer sichtbar zu sein. Dazu zählt die Art, wie wir unsere Staaten organisieren. Wir nehmen es heute meist unhinterfragt hin, dass wir in einem Nationalstaat leben. In solchen Staaten leben doch schließlich alle Menschen auf der Welt! Es ist das normalste, was man sich vorstellen kann und es würde den wenigsten einfallen, diese Art der nationalstaatlichen Organisation „Nationalismus“ zu nennen. Nationalismus. Das ist doch eigentlich ein Synonym für Rechtsextremismus. Das stimmt so aber nicht.

Wir leben schließlich in einer Welt, in der das Nationale über allem steht. Fast alle Staaten der Welt verstehen sich als Nationalstaaten. Sie sind ein Staat von und für eine bestimmte Nation. Als Folge davon sind jene Staatsbürger, die den nationalen Kriterien nicht entsprechen, auch nicht so richtig Teil des Systems. Man nennt sie dann entweder Ausländer oder Minderheiten. So oder so: Irgendetwas stimmt mit ihnen nicht. Die Tatsache, dass diese Form des Staates heute für die allermeisten von uns ganz normal ist, macht sie auch so unhinterfragt. Der Nationalismus erweckt aber auch den Anschein, selbst eine uralte Geschichte mitzubringen. Nationen gab es schon immer und der Nationalstaat ist somit die selbstverständliche Organisationsform des Menschen. Der Höhepunkt unserer Entwicklung sozusagen. Dabei ist er in Wirklichkeit doch eine verdammt junge Erfindung.

Was ist der Nationalismus?

Mit der „Normalität“ ist es ja so eine Sache. Nur weil uns heute etwas normal vorkommt, heißt das noch lange nicht, dass das immer und überall so war. So auch beim Nationalismus. Schaut man sich da nämlich mal im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts um, kann davon überhaupt keine Rede sein! Die Staaten Europas waren damals noch das, was sie bereits eine ganze Weile lang waren: König- und Kaiserreiche. Die „Staatsgrenzen“ hatten zumeist nichts mit ethnischen oder sprachlichen Grenzen zu tun. Ein Staat endete einfach dort, wo die Herrschaft des einen Königs endete und die eines anderen begann. Ergebnis unzähliger Kriege, Tauschgeschäfte, Schenkungen und Erbteilungen. Keinem der Bewohner dieser Länder wäre es deshalb in den Sinn gekommen, sich als Angehöriger der „Nation“ ihres Reiches zu definieren. Man hatte doch Familie, Dorf und den jeweiligen lokalen Grafen. Man wusste, wo man hingehört und brauchte keine nationale Definition. Kurz: Man war nicht deutsch oder französisch. Man lebte in Oberhausen oder Noisy-le-Sec.

Nationalismus ohne einen modernen Staat ist somit vollkommen undenkbar. In vormodernen, nicht zentralisieren Staaten stellte sich die Frage noch nicht mal. Diese Vorstellung war aber auch in der wissenschaftlichen Behandlung bei weitem nicht immer Konsens. Lange beherrschten auch da Theorien die Debatte, die wie die Nationalisten selbst von uralten Wurzeln heutiger Nationen ausgingen, die dann konsequenterweise in den heutigen Nationalstaaten mündeten. Heute vertreten die meisten Forscher aber eine andere Vorstellung: die sogenannte Modernismustheorie. Sie geht in die genau entgegengesetzte Richtung: Ohne Moderne kein Nationalismus, denn in einer vormodernen Gesellschaft stellen sich die Probleme gar nicht, die der Nationalismus angeblich löst.

Ein Produkt der Moderne

Mit dieser Moderne, insbesondere der Aufklärung und der Französischen Revolution, taten sich da für die Staaten Europas ja tatsächlich interessante Probleme auf. Die Herrschenden Europas sahen sich bis zu diesem Zeitpunkt noch als von Gottes Gnaden eingesetzt. Ihre Macht kam zumindest in der Theorie nicht aus irgendeiner Quelle im Diesseits, sondern war vorbestimmt von einer größeren Macht. Da gab es dann freilich wenig Grund, diese Herrschaft in Richtung des einfachen Volkes sonderlich zu legitimieren. Und den für die Herrschaft wichtigen Adel konnte man ja anders bei Laune halten. Mit Geschenken, Gewalt oder eine Mischung davon zum Beispiel. Für die Beherrschten auf der anderen Seite stellte sich die Identitätsfrage in vormodernen Zeiten genauso wenig. Es gab als Identitätsmarker die Standeszugehörigkeit, es gab die Zugehörigkeit zu einem Dorf und es gab im ganz Großen die Religion. Welche Sprache man nun sprach, war da nicht übermäßig wichtig.

Spätestens mit der Französischen Revolution bröckelte dieses System aber auf beiden Seiten. Eine Möglichkeit, die Stabilität des Staates wiederherzustellen, bot da eben der Nationalismus, der als theoretisch-romantisches Konstrukt ja schon einige Zeit existiert hatte. Die ehemaligen Untertanen des französischen Königs wurden mit der Revolution zu Staatsbürgern, was quasi nebenbei auch den Begriff des Ausländers auf die Welt brachte. Die Zugehörigkeit zum Staat war nun plötzlich von der Herkunft bestimmt. Französische Eltern hatten eben französische Kinder. In einer Zeit, in der Religion und Stand immer mehr an Bedeutung verloren, kam damit ein neuer Identitätsfaktor auf: die Nation. Die Herrscher wiederum sahen sich nun eben als nationale Führer, die dem Volk und der Nation dienten. Eine Win-Win-Situation. Das ist in ihren Grundzügen die modernistische Theorie der Nationalismusforschung, wie sie unter anderem von Ernest Gellner in seinem Buch „Nations and Nationalism“ erstmals vertreten wurde.

Die Erfindung der Nation von heute

Damit sind wir mit der Geschichte auch schon fast in der Gegenwart angekommen. Nach Frankreich und England, in dem proto-nationale Ideen schon tiefe Wurzeln hatten, setzte sich der Nationalismus als neue Staatsidee in immer mehr Ländern Europas durch. Heute versteht sich fast jeder europäische Staat als Nationalstaat. Es ist für die Menschheit vollkommen normal geworden, sich in erster Linie mit einer Nation und Sprache zu identifizieren. Religion, Klasse und alle anderen Dinge, die uns Menschen unterscheiden, spielen eine immer kleinere Rolle. Dabei ist diese Gemeinschaft der Nation doch verdammt unpraktisch! Man definiert sich dabei als Teil einer Gruppe, obwohl man die überwältigende Mehrheit der anderen Gruppenmitglieder niemals treffen und kennenlernen wird. Das war in Dorfgemeinschaften noch grundlegend anders, ein Dilemma, das Benedict Anderson mit seiner Theorie der Imagined Communities zu erklären versucht. Ein übrigens überraschend leicht lesbares und unterhaltsames Buch, das man nur empfehlen kann.

Er geht dabei auch zuerst der Idee des Nationalismus an sich auf den Grund und kommt zum Schluss, dass dieser irreführenderweise oft als eine Ideologie beschrieben wird, was unser Verständnis des Ganzen trübt. Und das stimmt sicher, zumindest in meiner Erfahrung. Politiker und Wissenschaftler gleichermaßen stellen den Nationalismus oft in eine Reihe mit Phänomenen wie Kommunismus oder Liberalismus. Tatsächlich funktioniert er aber nicht wie eine solche Ideologie. Die Menschen der Welt sind ja nicht einfach nur indoktriniert und laufen allesamt einer Ideologie nach, weil sie den Nationalismus so toll finden. Sie leben vielmehr in einem nationalistischen System, weshalb es ihnen gar nicht mehr auffällt. Und in dem Sinne ist der Nationalismus anderen Systemen wie etwa der Religion viel näher als Ideologien wie dem Kommunismus.

In Verbindung mit dem Zentralstaat hatte der Nationalismus dann auch schnell die Gelegenheit, sich im Leben der Menschen breit zu machen. Genau deswegen ist der Nationalismus modern! Das zentralisierte Schulwesen, die Verwaltung und die landesweiten Medien nutzten schon ab dem 18. Jahrhundert die neu entdeckten Nationalsprachen und plötzlich hatten Menschen, die im Grund nichts miteinander gemein hatten und hunderte Kilometer entfernt voneinander lebten, recht ähnliche Lebenserfahrungen. Sie lernten in der Schule dieselben Dinge, sie lasen Tag für Tag dieselben Zeitungen. Ehe man sich versah, war die Idee des Nationalismus – hundert Jahre früher noch vollkommen unvorstellbar – gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur neuen Normalität in Europa geworden. Die Welt folgte und bald waren Menschen bereit, für ihre „Nation“ zu sterben. In dem Sinne ist er somit wirklich wie die Religion.

Diesen Artikel habe ich geschrieben, weil das Thema des Nationalismus und seiner Natur in der Podcast-Episode diese Woche aufkam. Da spreche ich nämlich mit Danijel und Krsto vom „Neues vom Ballaballa-Balkan“ Podcast über Nationsmythen auf dem Balkan. Nach diesem Artikel bist du dafür somit ja top gewappnet, also hör rein!

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