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Die Grand Tour: Interrail des 18. Jahrhunderts

Die Grand Tour

Im England des späten 17. Jahrhunderts griff ein eigenartiger neuer Trend um sich. Junge Adelige und andere Wohlhabende zog es plötzlich in Massen über den Ärmelkanal, auf eine Reise, die bald als essentieller Teil des britischen Erwachsenwerdens gelten sollte – die Grand Tour. Das bedeutete: monatelanges Reisen, überfüllte Unterkünfte, Alkoholexzesse mit neuen Freunden aus aller Welt und das ein oder andere erotische Abenteuer. Jedem, der als Jugendlicher mal auf Interrail Reise ging, sollte das einigermaßen bekannt vorkommen. Aber die Grand Tour der Geschichte war trotzdem mehr als eine alte Version von Interrail.

Interrail. Um erwachsen zu werden und so

Adelige hatten ja bekanntlich schon immer ausgefallene Hobbys. Von der Jagd über die Falkenzucht bis zum Fechten war ihnen jede Betätigung recht, solange sie nur nicht zu viele arme Leute anzog. Das sollte natürlich auch so bleiben und dementsprechend suchten Adelige stets nach neuen, außergewöhnlichen Hobbys für sich und ihre Familien. Im späten 17. Jahrhunderts kamen sie in England dann auf eine ganz tolle Idee: Warum sollten die Söhne der Wohlhabenden nicht für einige Zeit durch Europa reisen und sich dort Kunst, Kultur und Leute ansehen? Da kann doch – wie beim Interrail heute noch – nichts schiefgehen!

Zu der Zeit war in England nichts so en vogue wie alte europäische Kultur und die ließ sich nun mal am Kontinent besser studieren, als auf den britischen Inseln. So machten sich junge Adelige bald in Massen auf, eben diesen Kontinent zu erkunden und sich dort neben all der Kultur auch reichlich… nun ja… auszutoben. Ihren Eltern war das sehr recht. Es war den Adelsfamilien lieber, die Söhne benahmen sich im weit entfernten Europa daneben, als zuhause, wo das ja auf die Familie zurückfallen könnte. Neben allen Erfahrungen – ob nun kultureller Natur oder nicht – konnten sich für die jungen Männer auf dieser Reise dann auch wertvolle Kontakte ergeben und so manche Ehe wurde durch die Grand Tour angebahnt. Letztlich konnten Reisende auf so einer Tour aber auch ihre Sprachkünste aufbessern und sich tatsächlicher Kultur widmen, wie es ja gemeint war. Wenn dann noch Zeit bleiben sollte, ist gegen das ein oder andere Bierchen ja auch nichts einzuwenden.

Paris, Rom, Venedig… Eine revolutionäre Route!

Einfallsreicher als heute waren die Reisenden leider auch damals nicht. Die üblichen Stationen der Grand Tour kommen einem daher doch recht bekannt vor. Von England aus ging es meist erstmal direkt nach Paris. Über die Schweizer Berge (wenig überraschend sind die in Zeiten der Eisenbahn nicht mehr ganz so populär wie damals) ging es dann weiter nach Italien. Übliche Stationen waren dort Florenz, Rom und Venedig, bevor es über Wien, Prag, Berlin und die Niederlande (das war ohne Coffee Shops damals noch weit weniger essentiell als heute) zurück nach Hause ging. Für das Land zwischen den Großstädten zeigten Reisende der Grand Tour damals gleich wenig Interesse wie heutige Interrail Touristen. Manche Dinge ändern sich eben nie.

Die Reise selbst war dabei aber doch einigermaßen beschwerlich. Üblicherweise reiste man nämlich in Kutschen. Die konnte man entweder gleich aus England mitnehmen, dann auch gern samt einem ganzen Hofstaat an Dienern und Accessoires. Alternativ konnte man Kutschen aber auch unterwegs ausleihen. In den Städten blieben die jungen Reisenden der Grand Tour dann meist gleich mehrere Monate lang hängen. Überhaupt war die ganze Reise schier endlos. An die dreieinhalb Jahre dauerte so eine übliche Tour. Drei Jahre davon verbrachte man in den diversen Städten, sechs Monate waren für das Reisen selbst reserviert. In den großen Städten Paris, Rom und Venedig bedeutete das dann meist sehr lange Aufenthalte. Um die örtliche Kultur zu genießen, natürlich.

Kultur nahm man damals noch ernst! Zumindest offiziell

Anders als heute beim Interrail bedeutete die Grand Tour damals aber tatsächlich nicht nur Partys, Alkohol und Sex. Man sollte ja schließlich in die Kultur und Geschichte Europas eintauchen und dazu möglichst viel Kunst besichtigen! Zu diesem Zweck wurde den jungen Reisenden sogar ein Guide zur Seite gestellt, ein sogenannter „Cicerone“ oder auch Bear Leader“. Der war meist ein kultivierter, älterer Herr, der Ahnung von Kunst hatte und gut Französisch oder gar Italienisch sprach. Mit seiner Hilfe sollte der junge Reisende möglichst viel von der Grand Tour mitnehmen. Dazu hatte er auch stets ein Notizbuch dabei, um wichtige Dinge sofort niederzuschreiben. Leider blieben die aber nicht selten auch nach drei Jahren noch komplett leer.

Das lag vor allem an einer Tatsache: die Reisenden waren eben so gut wie ausschließlich wohlhabende Burschen in ihren frühen Zwanzigern! Und die benahmen sich damals schon wie heute. In den Städten bildeten sich richtige Expat-Gemeinschaften von Briten auf Grand Tour. Gemeinsam zog man dann durch die Kneipen der Stadt, trank, spielte und flirtete mit lokalen Mädchen. Man sieht: Auch der Pub Crawl ist keine moderne Erfindung. Gerade von den Frauen kann man in den Reiseberichten der Zeit zur Genüge lesen. „How flattering Venetian dress — or perhaps the lack of it“, schrieb da beispielsweise ein Reisender. Der berüchtigte Lord Byron spannte in Venedig gar seinem eigenen Vermieter die Frau aus! Diese Tatsache erkannte auch die Tourismusbranche dann recht schnell und so boten nicht wenige Unterkünfte in Venedig oder Florenz sogenannte „garnierte Betten“ an. Das waren Betten. Garniert mit Frauen.

Haters gonna hate, das war in der Geschichte immer so

Gegner der Grand Tour gab es aber wenig überraschend auch schon damals. Politiker in England – später auch in anderen Ländern, in denen die Tour populär wurde – sahen schon mal gar nicht gern, wie viel „heimisches“ Geld da im Ausland verschleudert wurde. Doch es gab auch Kritik an der Reise selbst. Einige Kritiker beschwerten sich etwa über den Mangel an Abenteuer, den diese Tour mit sich brachte. Der eine nervige Reisende im Hostel, der mit seinem Hitchhiking-Trip durch die Mongolei prahlt, lässt grüßen. Auch an der Wahl der Städte hatten manche etwas auszusetzen. Als uniformiert und langweilig wurden sie etwa bezeichnet. Außerdem würde man dabei doch ohnehin nur alte Stereotype bestätigen, wie man sich typische Franzosen, Italiener oder Deutsche eben vorzustellen hatte. Schlussendlich war der englischen Upper Class aber auch etwas mulmig dabei, ihre Söhne alleine für drei Jahre nach Europa zu schicken. Kaum vorstellbar…

Irgendwann überholte sich die Grand Tour dann aber ohnehin selbst. Die napoleonischen Kriege machte die Reise durch Europa in den 1790ern doch einigermaßen selbstmörderisch. Kurz darauf folgte dann auch schon das Zeitalter der Eisenbahn und damit war die Zeit der Tour endgültig vorbei. Dem Adel war die Sache auch schlicht nicht mehr exklusiv genug. Jetzt konnte sich ja jeder ein Zugticket holen und einfach drauf losfahren! Die Zeitung Westminster Review beschwerte sich diesbezüglich etwa über ein „Gemisch aller Klassen“. „Der Erste unseres Adels und der letzte unserer Bürger begegnen und berühren sich an jeder Ecke“. Spuren hinterließ die Grand Tour trotzdem überall. Von den noch heute üblichen Interrail Reiserouten über die verbreiteten Vorstellungen, was genau „europäische Kultur“ ausmacht, bis zum „Paris-Syndrom“ sind die Folgen der Tour tatsächlich allgegenwärtig.

Kannst du nicht genug bekommen von abstrusen historischen Geschichten aus und über Großbritannien? Dann hast du Glück! Denn ich habe dazu ein ganzes Buch geschrieben! Es nennt sich Endstation Brexit und ich behandle darin mit einer gehörigen Portion Augenzwinkern 2000 Jahre englisch-europäische Geschichte. Hier findest du alle wichtigen Infos zu Endstation Brexit auf einen Blick. Aber ganz kurz gesagt: Wenn du diesen Blog magst, wirst du das Buch lieben. Und das ist ein Versprechen.

3 Gedanken zu „Die Grand Tour: Interrail des 18. Jahrhunderts“

  1. Du empfiehlst doch nicht ernsthaft „Eurotrip“? :O

    Ich habe übrigens tatsächlich mal jemanden kennengelernt, der nicht nur in der Mongolei per Anhalter unterwegs war, sondern den ganzen Weg von Rumänien bis in die Mongolei per Anhalter zurücklegte: https://andreas-moser.blog/2016/09/12/timotei-rad/

    Aber zurück zum Thema „Grand Tour“. Das letzte gelungene Beispiel, das mir bekannt ist, ist die Europareise von Patrick Leigh Fermor, der 1933 von England nach Holland übersetzte und dann die nächsten Jahre zu Fuß bis nach Istanbul wandern wollte. Seine Bücher (der erste Band heißt „Die Zeit der Gaben“) lassen sowohl den Oberschichtbildungsbürgerdünkel durchscheinen, zeugen aber auch von aufrichtigem Interesse für die kontinentaleuropäische Kulturen und Sprachen. Er war damals erst 18 Jahre alt und ich nahm ihm die Behauptung, er habe sich auf der Reise selbst Deutsch beigebracht, zuerst nicht ab, bis ich mal ein Interview mit ihm auf Deutsch sah. Auch Jahrzehnte nach der Reise sprach er es noch ganz gut. Ebenso lernte er anscheinend fließend Rumänisch und Griechisch. Lateinisch sprach er sowieso.
    Eine beeindruckende Person, und seine Bücher sind ein sprachlicher Genuss sowie ein interessanter Blick in die Zwischenkriegszeit.

    1. Haha, ach, den Film kann man sich schonmal anschauen 😉

      Wow, das klingt nach ner ziemlichen Ochsentour… Solche Leute trifft man ja tatsächlich gar nicht so selten. In einem Hostel in Prishtina ist mir zum Beispiel mal ein Deutscher begegnet, der da gerade mit dem Rad nach Peking unterwegs war!

      Den Patrick Fermor kenn ich gar nicht. Nach allem, was du da erzählst, war das wohl wirklich eine Reise im Stil der alten Grand Tours. Beeindruckend! Dass er sich auch abseits der Kultur so ausgelebt hat wie die alten Grand-Touristen kann man wohl nur spekulieren 😉

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